Timothy Keller im Interview

„Das moralische Verhalten vieler Christen ist einer der gängigsten religiösen Götzen.“

Timothy Keller predigt und lehrt im Herzen von Manhattan. In seinem soeben erschienen Buch „Es ist nicht alles Gott, was glänzt“ zeigt der Gründer der „Redeemer Presbyterian Church“ auf, warum Lebensbereiche und Ziele, die an sich erstrebenswert sind, bei vielen Menschen zu Problemen führen können. In unserem Interview erklärt Keller, wie Christen sich gegen die Versuchungen der modernen Götter wappnen können.

„Das moralische Verhalten vieler Christen ist einer der gängigsten religiösen Götzen.“
Welchen Stellenwert sollten Wohlstand, Liebe und Erfolg bei Christen haben?

Diese drei Dinge laufen deshalb Gefahr, zu „Göttern“ erhoben zu werden, weil der lebendige Gott in unserer Welt vielerorts keine tragende Rolle mehr spielt. Bei uns Christen sollte das aber anders sein.

Richard Forster hat ein Buch über Geld, Sex und Macht geschrieben, das sich mit dem richtigen Umgang dieser drei Themen in der christlichen Gemeinschaft beschäftigt und sehr gut illustriert, wie sehr sich die christliche Sicht von der Gesellschaft von der weltlichen Sicht unterscheidet.  

Ich hingegen analysiere unsere heutige Gesellschaft und verwende den Begriff des Götzendienstes, um Christen verständlich zu machen, wie sie in dieser Welt beeinflusst werden.

Was macht diese drei Dinge so verführerisch und schwer zu kontrollieren?

Christen neigen dazu, sich in erster Linie um Dinge wie Drogen, Alkohol und Pornografie Gedanken zu machen. Aber diese schädlichen Dinge sind nicht unser größtes Problem. Liebe, Arbeit und Wohlstand sind andererseits eigentlich sehr positive Aspekte. Sie sind ein wesentlicher Teil unseres Daseins als Gottes Gegenüber. Wenn Gott aber den zweiten Platz hinter diesen Dingen einnimmt, sind wir auf dem falschen Weg. Oder um es mit anderen Worten zu sagen: Wir neigen dazu, diesen Dingen eine zu große Priorität einzuräumen. Allerdings möchte ich nicht vermitteln: „Lasst uns in die Wüste ziehen, beten und unsere Bibeln lesen.“

Einen falschen Gott kann man auch daran erkennen, dass einem das Leben sinnlos vorkäme, wenn er nicht mehr da wäre. Der Götze nimmt eine so zentrale Rolle im Leben ein, dass man ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, mit der allergrößten Leidenschaft verfolgt und ihm alle Kraft und alle verfügbaren emotionalen und finanziellen Ressourcen zur Verfügung stellt. Dabei kann es sich genauso um die eigene Familie handeln wie um den Beruf, um den Wunsch nach mehr Geld oder nach Erfolg oder Wertschätzung. 



Haben Christen einen blinden Fleck, wenn es um falsche Götter geht?

Ein Götze ist etwas, von dem du dir Erlösung erhoffst. Und erstaunlicherweise kann das richtige moralische Verhalten sich bei vielen Christen zu einem solchen Götzen entwickeln: „Ich bin gerettet, weil ich ein gutes Leben führe.“ Ich bin Presbyterianer, also ist es mir wichtig, entsprechend der richtigen Glaubenslehre zu leben. Aber die Gefahr ist groß, dass man sich anderen überlegen fühlt und auf die Idee kommt: „Gott ist mit mir zufrieden, weil ich ein untadeliges Leben führe.“ Das Vertrauen auf die richtige christliche Lehre und ein hoher moralischer Anspruch können aber auch ein Zeichen dafür sein, dass wir den Götzen der Macht „anbeten“.

Ein anderes Zeichen dafür, dass wir dem Götzen der Macht aufgesessen sind, ist die Tatsache, dass wir dem Erfolg im Gemeindedienst eine Übergröße Bedeutung beimessen. Damit ist der Weg zum Götzen des Erfolgs nicht mehr weit. Es gibt auch fromme Versionen von Götzen wie Liebe, Wohlstand und Macht, und diese kommen oft sehr subtil daher.

|r Wie können wir die Götzen entlarven?

Nehmen Sie einmal Ihre Tagträume unter die Lupe. Wohin schweifen Ihre Gedanken, wenn Sie „an nichts“ denken, während Sie zum Beispiel auf den Bus warten? Oder werfen Sie einen Blick darauf, wofür Sie Ihr Geld ausgeben. Betrachten Sie Ihre unkontrollierten Emotionen oder die Schuld, die Sie nicht loswerden können. Auf diese Weise finden Sie zu Ihren Götzen.

Wann immer jemand sagt: „Ich weiß, dass Gott mir vergibt, aber ich kann mir selbst nicht vergeben“, bedeutet dies im Grunde, dass etwas anderes im Leben dieses Menschen einen höheren Stellenwert einnimmt als Gott, weil Gott ja vergibt. Wenn Sie einmal einen Blick auf die Dinge werfen, die Ihnen am meisten Angst machen, wenn Sie die Dinge unter die Lupe nehmen, die Ihnen das Gefühl vermitteln, dass Ihr Leben keinen Sinn mehr hat – dann ist dies ein falscher Gott.

Wie kriegen wir die Götzen in den Griff?

Ich gestehe, dass ich auf diesen Punkt in meinem Buch nur wenig eingehe. Geistliche Übungen zu praktizieren ist ein Thema für sich. Ich bin aber der Auffassung, dass das Analysieren und Erkennen von Götzen ein guter erster Schritt ist. Wichtig ist weiterhin ein intensives Gebetsleben. Aber Gebet allein reicht oft nicht aus. Notwendig sind außerdem enge Beziehungen zu anderen Christen, durchlebte Erfahrungen und echte Freude. Sie sollten Jesus Christus immer stärker Ihr Leben anvertrauen.

Auch wenn die Arbeit oder die Familie sich in unserem Leben zu Götzen entwickelt haben, werden wir doch nicht aufhören  dürfen, die Arbeit und die Familie zu lieben. Stattdessen  sollten wir Jesus aber viel mehr lieben, sodass nichts anderes uns versklaven kann.



Muss man erst Enttäuschungen erlebt haben, bevor man erkennt, dass Götzen die eigene Sehnsucht nicht befriedigen?

Ich wünschte, es wäre anders, aber ich befürchte, da ist etwas dran. Leider bleibt es oft nicht nur bei Enttäuschungen. Wenn ich einen Menschen treffe, dann kann ich noch lange nicht sagen, welchem Götzen er folgt. Oft muss erst etwas Schlimmes geschehen, um jemandem vor Augen zu führen, dass etwas  eine übermäßige Macht über ihn hat. Niemand weiß, welchen falschen Götter er auf den Leim gegangen ist, weil er das richtige Buch gelesen hat. Das ist natürlich hilfreich, aber erfahrungsgemäß muss schon mehr passieren.

Das Interview führte Sarah Pulliam Bailey für Christianity Today. Übersetzt mit freundlicher Genehmigung. © Christianity Today, 2009

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