Doris Kuegler im Interview

Dschungeljahre „Wir brauchen ein neues Herz”

Dschungeljahre „Wir brauchen ein neues Herz”
Doris Kuegler
Am 17. Februar kam der Film „Dschungelkind“ in die Kinos. Wie war es für Sie, den Film zu sehen?

Ich hatte den Film schon im Januar mit meiner Familie angeschaut. Zum Glück saß mein Sohn neben mir, der meine Hand hielt und mich tröstete, weil alles so überwältigend war. Deutschland und der Dschungel sind zwei so verschiedenen Welten, dass man, wenn man in der einen ist, die andere kaum wahrnehmen kann, weil die Unterschiede so gravierend sind. Es gibt keine Vergleiche. Nichts erinnert einen in der einen Welt an die andere. So war mir West-Papua irgendwie fern. Der Film brachte alles zurück. Ich saß da und konnte meine Augen nicht von der Leinwand lösen. All die Erinnerungen kamen zurück. Heimweh, Trauer, Sehnsucht rollten wie Wogen über mich, denen ich hilflos ausgeliefert war.

Aber es war auch schön, den Dschungel wiederzusehen. Manche der Papuas sahen aus wie die Fayu, die ich kannte. Der Film war sehr authentisch. Die drei Kinder ähnelten unseren so sehr, dass ich oft lachen musste. Einige Geschichten waren aber das Produkt der Fantasie. Sabine und Christian wären auf keinen Fall alleine in den Urwald gegangen und die Fayu hätten sie nie alleine gelassen. Denn die hatten selber zu viel Angst im Dschungel. Man konnte nicht gut durch den Dschungel laufen, er ist zu dicht und undurchdringlich. Man würde sich in kürzester Zeit verlaufen.



Ihre Biografie „Dschungeljahre“ erschien im Januar. Warum haben Sie sich entschieden, so wie Ihre Tochter ein Buch zu schreiben?

Seit Jahren fragte man mich, ob ich nicht ein Buch schreiben könnte, mit all den Erlebnissen und Erfahrungen, die wir unter den Fayu gemacht hatten. Aber mir fehlte immer der Mut. Ein ganzes Buch schreiben? Das war einfach zu viel. Kurzgeschichten? Ja! Aber ein ganzes Buch auf einmal? Dazu hatte ich keine Zeit. Und so schob ich es vor mir her. Vielleicht kam das mal infrage, wenn ich alt und einsam wäre und Langeweile hätte.

Dann kam Sabine eines Tages und erzählte mir, dass ihre Freunde sie immer wieder ermutigten, über ihre Kindheit zu schreiben. „Super“, dachte ich. „Dann brauche ich ja nicht zu schreiben.“ Das „Dschungelkind“ meiner Tochter Sabine entstand. Zum Erstaunen aller wurde es ein Bestseller.

Als ich Sabine in München besuchte, sagte sie mir eines Tages, dass der Droemer-Verlag sie gefragt hatte, ob ich nicht auch ein Buch schreiben könnte. Es seien so unglaublich viele Anfragen von Lesern gekommen: Wie war es denn für die Mutter? Diese Frage hätte mich auch brennend interessiert. Ich dachte, dass die Leser ein Recht darauf haben, eine Antwort auf die Frage zu bekommen. So entstand mein Buch „Dschungeljahre“. Ich entschied mich dann, es dem Verlag Gerth Medien anzubieten, der das Manuskript zu meiner großen Freude annahm.

Sie haben sich schon früh entschieden, als Missionarin ins Ausland zu gehen. Wie sind Sie letztendlich in West-Papua gelandet?

Ich wusste schon mit 12 Jahren, dass ich Missionarin werden wollte. Alle lachten über mich. Daraufhin verlor ich kein Wort mehr darüber. Als 16-Jährige bekam ich das Buch „Eine unbegabte Frau“ von Alan Burgess geschenkt. Gladys Aylward war ein einfaches Hausmädchen, das von den Missionsgesellschaften abgelehnt wird, das aber trotzdem ihr ganzes Geld spart, bis es eine Reise nach China bezahlen kann. Gladys macht sich auf den Weg und rettet schließlich Hunderte von Kindern. Ich war begeistert! So begann ich eine Ausbildung nach der anderen.

Mit 28 Jahren lernte ich meinen Mann kennen. Wir heirateten, und uns war klar, dass wir in die Mission gehörten. Das war unser Auftrag, unsere Berufung. Eigentlich wollten wir nach Burma. Da hatten wir deutsche Freunde. Aber das Land war für die Mission zu. Unsere Missionsgesellschaft schickte uns dann nach Nepal. Dort arbeiteten wir fast 5 Jahre unter den Danuwars. Sie waren Animisten und hatten noch nie den Namen Jesus gehört. Unser Sprachhelfer Baal Krishna hatte eine Begegnung mit Jesus. Er ging zurück in sein Dorf. Er erzählte seinen Leuten, was er erlebt hatte, und in kürzester Zeit kamen viele Danuwars zum Glauben. Wir kamen aus dem Heimaturlaub zurück und trauten unseren Ohren nicht. Überall in unserem Dorf hörte man: „Halleluja, Jesus.“ Klaus und ich schauten uns an und fragten: „Was ist denn hier los?“

Es kam später zu einer massiven Christenverfolgung. Wir und auch die Missionsgesellschaft mussten Nepal verlassen. In anderen Dörfern waren ebenfalls Menschen zum Glauben gekommen. Es wurde bekannt, dass wir die Bibel übersetzen wollten. Das war wohl das Ausschlaggebende, dass wir das Land verlassen mussten. Es war ein traumatisches Erlebnis, auch für unsere Kinder. Dann kam die große Frage: „Was machen wir jetzt? Wohin führt unser Weg?“ Viele Menschen beteten mit uns. Indonesien begann uns zu interessieren. Nach und nach bestätigte Gott uns, dass er dort eine Aufgabe für uns hatte. An dem Tag, als wir Deutschland verließen, wurde der Stamm der Fayu entdeckt. Auch nachdem wir in Indonesien waren, bestätigte Gott immer wieder, dass wir am richtigen Ort waren.

Ihre drei kleinen Kinder Judith, Sabine und Christian sind im Dschungel aufgewachsen. Gab es gefährliche Situationen, die Sie als Mutter meistern mussten?

Natürlich gab es gefährliche Situationen. Hier in Deutschland sind es der Straßenverkehr, Kriminalität und andere Dinge, die für Kinder gefährlich sein können. In West-Papua war es so, dass die gefährlichsten Situationen von uns erst hinterher als solche erkannt wurden. Zum Beispiel fuhren wir an einem Sonntag an einen kleinen Nebenfluss. Die Fayu waren natürlich auch dabei. Die Kinder tobten im Wasser, wuschen ihre Haare und hatten großen Spaß. Erstaunt fragte ich Klaus, warum die Fayu nicht ins Wasser gingen. Er dachte einen Augenblick nach und fragte sie dann. Die antworteten ganz cool: „Da gehen wir nicht rein. Was glaubst du wohl, wie viele Krokodile in diesem Fluss sind?“ Können Sie sich vorstellen, wie schnell unsere Kinder aus dem Wasser draußen waren?

Christian stolperte einmal und fiel mit nacktem Oberkörper in eine Feuerstelle. Ein Schrei! Klaus stand in der Nähe, riss ihn aus dem Feuer und sprang mit ihm auf den Arm in den Fluss. Als er mit Christian wieder heraus kam, hatte der nur eine winzig kleine Brandblase, so groß wie ein Stecknadelkopf, am Knie. Das war Bewahrung und Heilung zur gleichen Zeit. Solche Erlebnisse nahmen uns Angst und Sorge.

Sie haben unter Steinzeit-Bedingungen gelebt. Was waren Ihre Aufgaben im Alltag?

Unser Alltag war sehr geordnet, was den Tagesablauf anging. Wir standen auf, wenn es hell wurde, und gingen zu Bett, wenn es dunkel wurde. Jede Lichtquelle im Haus zog Insekten an und so ließen wir lieber kein Licht brennen. Die Kinder schliefen immer schnell ein. Klaus erzählte ihnen abends seine Geschichten, die er sich selbst ausdachte und die die Kinder über alles liebten. Nach dem Frühstück begann die Schule der Kinder. Sie arbeiteten nach einem amerikanischen Homeschooling-System. Ich blieb bei ihnen, beantwortete Fragen, korrigierte ihre Arbeiten und zensierte sie.

Gegen Mittag bereitete ich das Essen zu. Das, was die Fayu aus dem Dschungel mitbrachten, gab es meist zum Mittagessen. Ich hatte immer Reis und Gemüsekonserven dabei. Brachten die Fayu sehr viele Nahrungsmittel zum Tauschen, luden wir auch die Fayu-Kinder zum Essen ein.

Nachmittags gab es immer viel zu tun. Ich behandelte Kranke, versorgte Wunden, saß bei den Frauen und lehrte sie einfache Tätigkeiten, zum Beispiel, wie man einen Saum umnäht. Der Nachmittag ging immer sehr schnell vorbei. Da die Dunkelheit in Minuten hereinbrach, mussten wir uns genau nach der Zeit richten. Eine Dämmerung gab es nicht, so wie wir das hier in Deutschland kennen. Unsere älteste Tochter Judith bereitete das Abendessen zu, besonders, wenn ich mich um jemanden kümmern musste.

Waren Sabine und Christian irgendwo unterwegs (sehr weit weg waren sie nie), nahm ich meine Trompete und spielte „Vorwärts, Christi Streiter“. Innerhalb weniger Minuten waren sie zu Hause! Die Betten wurden vorbereitet, Moskitonetze ausgespannt. Gegen 18 Uhr war es dunkel und da musste alles fertig und aufgeräumt sein. Es gab viele Kleinigkeiten, die zu tun waren. So verging ein Tag nach dem anderen. Es war ganz gewiss nicht immer spannend und aufregend. Das war eher die Ausnahme.

Klaus Kuegler mit einigen Sefeudi-FayuSie haben in direkter Nähe zu den Fayu gelebt – auf neutralem Boden zwischen feindlichen Stämmen. Wie sah der Alltag mit den Fayu aus?

Bou, einer der Häuptlinge, hatte uns den Platz gezeigt, wo wir eine Hütte bauen konnten. Es war ganz nahe am Flussufer. Bald fanden wir heraus, dass dieser Platz halb den Iyarikes und halb den Tigris gehörte. Das war ganz schön klug von Bou. Keiner von beiden Clans konnte jetzt behaupten: „Klausu und Doriso gehören uns.“ Es dauerte nicht lange, da kamen die Fayu der anderen Clans ebenfalls zu uns. Sie wollten mit Klaus Tauschgeschäfte machen. Er gab ihnen, was sie brauchten: Fischhaken, Leine, Messer, Handtücher, später Hosen und T-Shirts und vieles andere. Sie gaben uns Fleisch, Fische, Eier, Wurzeln zum Essen, Sago (das Fruchtmark der Palmen, das wie Mehl verwendet wird) und was sonst im Urwald wächst.

Wir waren sehr zufrieden und die Fayu auch. Ihr Alltag wurde viel unkomplizierter, seit sie Äxte, Messer und andere Dinge aus Metall hatten. Vorher kannten sie kein Metall, ganz zu schweigen von Glas und Plastikbehältern. Die ersten Jahre waren sehr schwierig. Es gab dauernd Kämpfe zwischen den einzelnen Clans. Alte Geschichten wurden aufgewärmt, man schrie sich an. Es wurde immer lauter, bis hin zu Waffengewalt.

Wir holten dann die Kinder ins Haus. Judith litt sehr darunter. Sabine saß auf dem Tisch und sah sich alles an wie einen Fernsehfilm. Wenn es zu Verletzungen kam, setzten wir uns aufs Bett, und ich las ihnen etwas vor, wenn es draußen nicht zu laut war. Waren die Auseinandersetzungen zu Ende, nahm ich meinen Medizinkoffer und ging von einem Fayu zum anderen, um die Wunden zu versorgen. Sabine ging mit Begeisterung mit und half mir. Für sie war alles spannend.

Als sich dann endlich die Männer entschlossen, Pfeile und Bogen im Kanu zu lassen, wurde unser Leben entschieden einfacher. Die Kinder spielten alle miteinander, gingen zusammen schwimmen, egal, wie sehr ihre Väter miteinander verfeindet waren. Klaus saß meistens bei den Fayu-Männern und arbeitete an der Fayu-Sprache. Ich kümmerte mich um alles andere.

Wie konnten Sie sich verständigen?

Wir verständigten uns zuerst mit Händen und Füßen. Aber Klaus lernte schnell. Es machte den Fayu auch Spaß, ihm ihre Sprache beizubringen. Wir zeigten auf Gegenstände und sagten: „Ariwe – was ist das?“ So lernten wir mehr und mehr Fayu-Wörter. Viele Worte fanden wir auch zufällig heraus. Wir waren immer dankbar, wenn wir etwas Neues fanden, was wichtig war, z. B. die Fragewörter. Es eröffnete einen ganz neuen Schatz an Fayu-Wörtern.

Welche Rolle hat der Glaube für Sie gespielt?

Das kann ich in einem Satz sagen: Ohne den Glauben, dass Gott existiert, dass sein Sohn Jesus Christus für mich am Kreuz gestorben ist und mich erlöst hat, wären wir nie bei den Fayu gelandet. Dieser Glaube hat uns befähigt, Gott zu hören, seinen Willen zu erkennen und im Gehorsam diesem Ruf zu folgen. Ohne die Zusicherung durch die Bibel, dass er uns bewahrt, hätte ich nie meine Kinder dorthin mitgenommen.

Sicher fragen jetzt einige Menschen: „Aber was ist mit dem oder jenem geschehen? Hat Gott den nicht bewahrt? Waren die Verheißungen im Wort Gottes für diesen Menschen ungültig?“ Darauf kann ich oder irgendjemand anderes keine Antwort geben. Wir kennen weder die Geschichte noch den Werdegang, noch den Hintergrund der Familie, noch Gottes Plan mit den Menschen, denen etwas Schlimmes zugestoßen ist. Wir können nur für uns vor Gott stehen, ihm vertrauen, uns ihm unterstellen und dafür sorgen, dass wir im Gehorsam auf Jesus nachfolgen.

Ich habe eine wichtige Lektion gelernt: Ein bloßes Überzeugt-Sein von etwas, das in der Bibel steht, ist kein Glaube. Er ist zwar ein erster Schritt zum Glauben, aber der Glaube, der Gott gefällt, wächst durch die Beschäftigung mit dem Wort Gottes, durch Nachdenken über das Wort Gottes und durch das Gebet. Der Glaube, der dann in uns wächst, ist nicht abhängig von dem, was wir fühlen oder erleben. Wenn man diesen Glauben hat, dann fällt das Zweifeln schwerer als das Glauben.

Den Fayu von Jesus zu erzählen war nicht schwierig, als wir erst einmal einen Grundwortschatz in ihrer Sprache besaßen. Aber wie Klaus immer so treffend sagt: Unsere Bibelübersetzung begann, als wir den ersten Tag bei den Fayu lebten. Sie beobachteten uns sehr genau und merkten bald, dass wir sie liebten und nur ihr Bestes wollten. Sie fassten schnell Vertrauen zu Klaus. Wir glauben, dass Gott ihnen eine Sehnsucht nach ihm selbst ins Herz gelegt hatte. Denn welches Volk sagt schon von sich selber: „Unsere Herzen sind schlecht, wir brauchen ein neues Herz“?



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(c) Gerth Medien, 2011